BY Michaela Melián in Profiles | 05 SEP 14

Harun Farockis Stimme

Wenn ich an Harun Farocki denke, denke ich zuallererst an seine Stimme. Lange bevor ich ihn zum ersten Mal persönlich traf, war mir diese Stimme längst vertraut aus seinen Filmen. Sie begleitet uns durch Farockis filmisches Werk, sie trägt uns durch die montierten Bilder, zieht uns hinein in seine Überlegungen und Untersuchungen. Diese Stimme hat großen Anteil daran, dass uns seine Filme berühren und weiter berühren werden.

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BY Michaela Melián in Profiles | 05 SEP 14

Es ist heute kaum mehr vorstellbar, dass viele seiner Filme, die neben einem aufklärerischen Anspruch auch immer etwas ganz Persönliches transportieren, ursprünglich für bundesrepublikanische Fernsehanstalten produziert wurden. So auch der 30-minütige 16-mm-Film Ein Bild von Sarah Schumann, erstmals ausgestrahlt 1978 vom WDR in der Sendereihe Kunstgeschichten, auf den ich hier kurz zu sprechen kommen will. Über drei Monate, vom Dezember 1975 bis zum März 1976, kam Farocki mit seinem kleinen Team regelmäßig in Sarah Schumanns Studio in ihrer Wohnung im Westberliner Charlottenburg vorbei, um den Entstehungsprozess eines ihrer Bilder zu dokumentieren.

Der Film beginnt mit einer Rückenansicht von Schumann, die, an ihrem Arbeitstisch sitzend, eine Holzplatte als Bildträger vorbereitet. Links, im rechten Winkel zum Betrachter, steht eine Staffelei. Den Hintergrund bildet ein großes Fenster, das den Blick auf das gegenüberliegende Wohnhaus zeigt. Nach 22 Minuten, wenn das Bild fertig ist, sehen wir Schumann wieder in derselben Einstellung von hinten an ihrem Arbeitstisch. Sie steht auf und hebt die 120 × 135 cm große Holzplatte mit dem fertigen Bild auf die Staffelei, tritt zurück und geht ab. Dazu sagt Harun Farockis Stimme: „An diesem Tag war das Bild, drei Monate nach Beginn und 67 Arbeitstagen fertig.“ Dann sehen wir das Bild, bildschirmfüllend auf der Staffelei, Schumann tritt heran, und man sieht ihrer rechten Hand in Nahaufnahme beim Signieren zu. Jetzt wendet sie sich zum ersten Mal im Film mit dem Pinsel in der Hand dem Betrachter zu, stellt sich links neben die im Zentrum des Gemäldes abgebildete Person und guckt direkt in die Kamera, guckt uns also direkt an.

Es folgt ein fünfminütiges Gespräch zwischen Farocki und Schumann. Schumann sitzt in der rechten Bildhälfte frontal zur Kamera am Arbeitstisch, mit Farben und Pinseln vor der weißen Wand. Neben ihr ist ein großer Spiegel an die Wand gelehnt, er füllt die ganze linke Bildschirmhälfte aus, darin spiegeln sich – in einer Art Gegenschuss – Schumanns Studio, Farocki und die Kamera auf dem Stativ mit dem Kameramann Ingo Kratisch. Das fertige Bild ist nicht zu sehen, es ist nur Gegenstand des nun folgenden Gesprächs. Beide, Schumann und Farocki, tragen rosa Hemden, sie posieren jeweils neben ihrem Arbeitsgerät. Auch wenn sie sich eigentlich gegenübersitzen, blicken im Filmbild – vermittelt über den Spiegel – beide den Betrachter an. Wenn Farocki in diesem Film spricht, dann verwendet er nie das Wort „ich“, er spricht immer von „wir“, er spricht also für sich und sein Team und für uns Zuschauer.

Der kurze Film vermittelt in seiner ganzen Struktur den Eindruck, dass der Filmemacher Farocki mit den Diskursen der Frauenbewegung vertraut war und deshalb bewusst die Künstlerin Schumann in ihrem Arbeitszimmer bei der Arbeit zwar zeigt, aber immer nur vermittelt anhand des Gegenstandes, des entstehenden Bildes.

Schumann und Farocki kannten sich seit Mitte der 1960er Jahre, aus der künstlerischen und politischen Szene Westberlins. Schumann organisierte 1977 zusammen mit einer Frauengruppe die bahnbrechende Überblicksausstellung Künstlerinnen International 1877–1977 im Berliner Schloss Charlottenburg. Die Künstlerin Ursula Lefkes, die erste Ehefrau von Farocki, war eine gute Freundin von Schumann und eines ihrer bevorzugten Modelle.

In der Art und Weise, wie Farocki den Entstehungsprozess des Schumannschen Bildes Iris, 1976, Fotografie, Öl, diverse Materialien collagiert auf Holz, 120 × 135 cm begleitet, und wie er die Künstlerin im letzten Teil des Films zu ihrer Arbeitsweise befragt, zeigen sich Verfahren und Themen, wie wir sie aus vielen seiner Filme kennen. Im Mittelpunkt steht der Arbeitsprozess und der Arbeitsplatz, eine wichtige Rolle nimmt die Platzierung der Kamera ein, die uns zwar ganz nah an den künstlerischen Arbeitsprozess heranführt, nie aber die Künstlerin als Frau oder Privatperson inszeniert. So gibt es zum Beispiel nur ein paar wenige Standpunkte der Kamera in diesem Arbeitszimmer, meistens steht sie rechts und blickt der Künstlerin bei den einzelnen Arbeitsschritten über die Schulter; etwa wenn Schumann Teile aus Illustrierten ausschneidet, aufklebt, oder den Pinsel mit schnellen Strichen über die Holzplatte führt. Zur Veranschaulichung geht die Kamera dann ganz nah an die Hände von Schumann, so als würden wir uns mit ihr über das Werk beugen. Dazu gibt es die Arbeitsgeräusche, den Lärm der Straße durch die Altbaufenster, das Knarren der Holzdielen zu hören.

Jede Etappe wird mit einer Totalen auf das ganze Bild in seinem jeweilig aktuellen Zustand, abgestellt auf der Staffelei neben dem Arbeitstisch, beendet. Anschließend kommt immer ein Stück Papier ins Bild, auf das Schumann das Datum und die mit dem Bild verbrachte Arbeitszeit schreibt. Oft gibt es auch Zusatzbemerkungen wie „Post“, „Vertrieb“, „Einkaufen“, „Rahmen“ oder „Frauengruppe“, die uns den Hinweis geben, dass es mit dem Herstellen des Kunstwerks allein nicht getan ist bzw. dass Schumann wohl nicht nur von ihrer Kunst leben kann, sondern auch anderen Aktivitäten nachgeht.

Diese Einstellungen wiederholen sich mehrfach. Gerade in dieser Art der Wiederholung wird der langwierige Arbeitsprozess, die Suche nach einer eigenen Form betont, dabei immer begleitet von Farockis Stimme, der die Arbeitsschritte zusammenfasst: „Immer wieder schnitt Sarah Schumann Vorlagen aus, meistens aus Illustrierten und Modezeitschriften, veränderte die Vorlagen durch Malerei und legte wieder neue hinzu, und so entstand das Bild, Schicht über Schicht. Jede neue Schicht bedeutet Veränderung, Korrektur oder Weiterentwicklung. Sarah Schumann probiert ihr Bild in vielen Schritten aus, sie gewinnt dabei eine immer genauere Vorstellung.“

Dieser Film war lange in irgendwelchen Fernseharchiven gelegen. Weil mir Schumann 2012 im Gespräch für meine Arbeit Silvia Bovenschen und Sarah Schumann von diesem Film erzählt hat, habe ich Harun Farocki und seine Ehefrau Antje Ehmann nach dem Film gefragt. Sie haben ihn gesucht und so konnte er schließlich 2014 zusammen mit den Bildern von Schumann und meiner Arbeit im Heidelberger Kunstverein gezeigt werden. Ich warte auf das Fernsehprogramm, bei dem nur Harun-Farocki-Produktionen ausgestrahlt werden, die von den öffentlich-rechtlichen Sendern beauftragt worden sind.

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Nachruf auf Harun Farocki von Thomas Elsaesser

Michaela Melián ist Künstlerin und Musikerin. Sie lebt in München und Hamburg. Melián ist Mitglied der 1980 gegründeten Band F.S.K (Freiwillige Selbstkontrolle) und seit 2010 Professorin an der Hochschule für bildende Künste, Hamburg.

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