55. Venedig-Biennale: Geklotze und das Gegenteil davon
Auf vieles von dem, was man seit dieser Woche in Venedig zu sehen bekommt, passt recht gut das Wort „Materialschlacht“. In dem Sinne, dass das Gezeigte nicht allein mit einer (guten) Idee zu punkten sucht, sondern sich parallel der produktionstechnische Aufwand in die Rezeption drängt: die Einbeziehung von möglichst vielen Helfern, die schiere Anhäufung von Fabriziertem und Herbeitransportiertem, die horrenden Kosten, die mutmaßlich entstanden sind.
Auf vieles von dem, was man seit dieser Woche in Venedig zu sehen bekommt, passt recht gut das Wort „Materialschlacht“. In dem Sinne, dass das Gezeigte nicht allein mit einer (guten) Idee zu punkten sucht, sondern sich parallel der produktionstechnische Aufwand in die Rezeption drängt: die Einbeziehung von möglichst vielen Helfern, die schiere Anhäufung von Fabriziertem und Herbeitransportiertem, die horrenden Kosten, die mutmaßlich entstanden sind.
Anri Salas Arbeit für den französischen (deutschen) Pavillon zum Beispiel bläst eine gar nicht mal so große Idee – zwei Aufnahmen von Ravels Klavierkonzert für die linke Hand müssen manuell am DJ-Pult synchronisiert werden – zum bombastischen High-Definition-Multi-Screen-Spektakel auf. Sala hat für Ravel Ravel Unravel niemand Geringeres als die beiden Klaviersolisten Louis Lortie und Jean-Efflam Bavouzet ins Studio bestellt, sie haben mit dem Orchestre Nationale d’Île-de-France jeweils eine Aufnahme des Ravel-Konzerts eingespielt, mit diesen Aufnahmen wurden zwei Vinyl-Unikate bepresst, und diese wiederum werden natürlich auch nicht von irgendwem gedreht: Es ist die in der Techno-Welt für ihre glamouröse Zurückgenommenheit berühmte Pariser DJ Chloé, der man hier beim konzentrierten Mixen zuschaut. Wenn schon, denn schon! Was kostet die Welt! Ähnlich im österreichischen Pavillon: Mathias Polednas dreiminütiger Disney-Zeichentrick-Nachbau Imitation of Life ist längst der Publikumshit der Biennale, weil er so schön lustig ist, dabei kommuniziert er gleichzeitig immer mit: Diese Lustigkeit ist hart erarbeitet und erkauft – angefangen bei der vollen Orchestrierung (aufgenommen in den original Warner Brothers Studios!) bis hin zur von Disney-Profis unterstützten visuellen Umsetzung (aquarellierte Hintergründe, Tusche auf Folie, 5000 handgezeichnete Skizzen!).
Bei dem impliziten Geklotze und Aufwand-Betreibe ist man jedenfalls dankbar für Ecken, in denen es auch mit ein bisschen weniger geht. Im rumänischen Pavillon hängt nichts, steht nichts, tönt nichts, hier zeigen zehn Performer in Alltagskleidung An Immaterial Retrospective of the Venice Biennale. Eingeteilt in Fünfergruppen und Viereinhalb-Stunden-Schichten, stellen sie mit ihren Körpern eine Auswahl von hundert Exponaten aus der Geschichte der Biennale nach. Das Re-enactment von Felix Gonzales-Torres’ Bonbonteppich Untitled (Public Opinion), 2007 im Pavillon der USA gezeigt, sieht so aus: Die fünf Performer legen sich nacheinander Seite an Seite auf den Boden, sodass eine etwa quadratische Menschenfläche entsteht, dann ruft eine Performerin im 30-Sekunden-Takt: „Please, take!“ Niemand im Publikum weiß so recht, wie man die Anweisung befolgen soll. Was sollte es hier zu nehmen geben? Soll man die Rumänen an ihren T-Shirts zupfen, als wolle man sich ein imaginäres Bonbon rauspicken? Je häufiger die Aufforderung „Please, take!“ wiederholt wird, desto betretener wird die Stimmung im Pavillon, bis sich schließlich eine Zuschauerin hinunter kniet und einer Performerin für zehn Sekunden die Hand hält – also eher etwas gibt (Zuwendung), statt zu nehmen. Die von den Performancekünstlern Alexandra Pirici und Manuel Pelmuș konzipierte Arbeit thematisiert auf überzeugende, nicht aufdringliche Art unter anderem Budget-Knappheit, sie schreiben in ihrem Text zur Arbeit ganz offen – ohne zu romantisieren oder zu skandalisieren –, dass sie den Performern nicht mehr als eine „survival salary“ zahlen können. Und auch der Stolz auf „nationale Kunst“ wird hier adressiert: Indem die Performer Brancusis Bird in Space (1923) nachstellen, beseitigen sie – deutlich augenzwinkernd – eine der fortwährenden nationalen rumänischen Frustrationen, nämlich dass der große Brancusi nie im rumänischen Pavillon ausgestellt wurde. Der rumänische Pavillon ist in diesem Jahr einer der interessantesten nationalen Pavillons.
In der Arsenale-Halle, Teil der von Massimiliano Gioni kuratierten Il Palazzo Enciclopedico_-Schau, herrscht dann an vielen Stellen wieder materielle Megalomanie. Bei einer ganzen Reihe von Arbeiten – besonders denen, die speziell für die Schau entstanden sind – wird man den Eindruck nicht los, sie seien ein wenig zu groß oder umfangreich geraten, es bleibt unklar, inwiefern ihre Dimensionen tatsächlich notwendig waren. Pawel Althamers Installation _The Venetians (2013) zum Beispiel besteht aus annähernd hundert lebensgroßen Figuren, die an eine Mischung aus Gunther-von-Hagens-Präparat und Cyborg erinnern, dabei hätten es zwanzig von diesen Figuren im Grunde genauso getan. Umso stärker wirkt da die Irritation, wenn ganz am Rand, allein und vereinzelt, Duane Hansons Bus Stop Lady (1983) steht. Zunächst denkt man, es müsse ein Irrtum sein. Viel zu unscheinbar und bescheiden, ja, viel zu unaufdringlich wirkt die Figur für diese Ausstellung. Der Clou der Skulptur ist, dass sie eine Frau mittleren Alters darstellt, die ihrer vermutlich freudlosen Angestellten-Existenz ein klein wenig Glamour verleiht, indem sie eine (leere) Plastiktüte mit dem Aufdruck „That Jean Look – Contemporary Male and Female Fashions“ vor sich trägt. Die Bus Stop Lady ist ein Lehrstück in Ökonomie und der heimliche Star der Arsenale – und sie lässt an einen der schönsten YouTube-Hits der letzten Wochen denken: „Woman Dancing at Bus Stop“.